- Tibet: Geschichte und religiöse Traditionen
- Tibet: Geschichte und religiöse TraditionenDas 2 Millionen km² umfassende Territorium Tibets, das im Westen an Nepal und Indien, im Osten an China sowie im Süden an Bhutan und Birma grenzt, ist nach drei Seiten von den höchsten Bergen der Welt umgeben: im Süden vom Himalaya, im Westen von den Gipfeln des Karakorum und im Norden von Kunlun- und Tangra-Gebirge. Der Nordteil Tibets ist eine fast unbewohnbare Wüste. Die überwiegende Mehrheit der Tibeter bewohnt die vom Brahmaputra (tibetisch: Tsangpo) bewässerte Südhälfte des Landes und die östlichen Provinzen Amdo und Kham. Ackerbau ist ausschließlich im Süden und im Osten möglich; im Norden und Westen werden weite Gebiete zur Viehzucht genutzt. Es gibt nur wenige Städte; zu den größten gehören Lhasa, Shigatse und Gyantse. In diesen Handelszentren befanden sich bis 1959 auch die Provinzregierungen von Tibet. Bis 1952 hatte die Hauptstadt Lhasa etwa 25 000 Einwohner.Das für Jahrzehnte von der Umwelt isolierte, für Fremde so gut wie unzugängliche Land war bis zum nationalen Aufstand der Tibeter gegen China im Jahr 1959 ein weitgehend selbstständiger buddhistischer Staat mit einer feudalistischen Gesellschaftsordnung, die auf Großgrundbesitz und der Herrschaft einer Adelsschicht und des Klerus beruhte. Die Zentralgewalt lag beim Dalai Lama, dem staatlichen und religiösen Oberhaupt Tibets, und einem vom Klerus und Adel bestellten Ministerrat. Das Amt des Dalai Lama war schon im 16. Jahrhundert begründet worden, doch erst unter dem fünften Dalai Lama, Losang Gyatso, im 17. Jahrhundert gelangten weltliche und geistliche Autorität entgültig in eine Hand. Er galt als weiser, toleranter Herrscher, der Tibet ein Gefühl der nationalen Einheit und Stärke verlieh. Der mächtige, von ihm ausgebaute Potala-Palastes in Lhasa ist ein heute noch sichtbares Zeichen seiner Herrschaft.Über die Vorgeschichte der Tibeter ist nur sehr wenig bekannt. Wahrscheinlich stammen sie von nomadischen Stämmen ab, die vor etwa 3000 Jahren aus dem Nordosten Zentralasiens nach Tibet einwanderten. Der mythologische Ursprung des tibetischen Königtums wird in das zweite vorchristliche Jahrhundert gelegt. Schriftliche Quellen aus dem 7. Jahrhundert erwähnen den tibetischen König Srongtsan Gampo, dem es gelang, mit einer schlagkräftigen, gut organisierten Armee die zerstrittenen Fürstentümer zu einigen und ein mächtiges Reich zu errichten. Er machte Lhasa zur Hauptstadt des Reiches. Durch seine Heirat mit der nepalesischen Prinzessin Bhrikuti und der chinesischen Prinzessin Wencheng, beide Anhängerinnen des Buddhismus, gewann die buddhistische Religion erstmals weit reichenden Einfluss in Tibet. Die vorbuddhistische Bon-Religion, ein Ahnen- und Geisterkult mit ausgeprägter schamanistischer Tradition, wurde in der Folge weitgehend verdrängt. Elemente der Bon-Religion überlebten jedoch im tantrischen (geheimen) tibetischen Buddhismus, der sich vom 8. Jahrhundert an, während der Herrschaft Srongtsan Gampos, in Tibet auszubreiten begann. In der Folge wurden im ganzen Land Klöster und andere religiöse Stätten gebaut. Außerdem sandte der König einen seiner Minister nach Indien, wo dieser ein für die tibetische Sprache geeignetes Alphabet entwickeln sollte. Zu dieser Zeit entstand in Tibet auch ein einfaches Rechtssystem, das spätere Herrscher weiter ausbauten.Während der Regierung des Buddhismus-feindlichen Königs Langdarma (906), eines Anhängers der Bon-Religion, führten politische, wirtschaftliche und religiöse Auseinandersetzungen der führenden Adelssippen in Tibet so weit, dass die buddhistische Lehre gewaltsam unterdrückt und die Mönche vertrieben wurden. Später zerfiel das Königreich in verschiedene kleine Fürstentümer. Erst seit dem 11. Jahrhundert erwachte von neuem das Interesse am Buddhismus, der sich von den östlichen und vor allem von den westlichen Teilen Tibets, Purang und Guge, her ausbreitete. Bald waren sowohl indische als auch tibetische Gelehrte wiederum damit beschäftigt, buddhistische Schriften zu übersetzen und die Lehre weiterzutragen. In der Folge entwickelten sich verschiedene buddhistische Schulrichtungen. Als dann auch in Tibet selbst bedeutende Gelehrte heranwuchsen, verringerte sich nach und nach die Zahl der aus Indien und Nepal stammenden Lehrmeister.Der tibetische Buddhismus wurde besonders durch die Klöster mit ihren Mönchen und deren religiösen Lehrmeistern, den Lamas, geprägt, sodass sich in Europa für die in Tibet praktizierten Formen der Lehre auch der in Tibet selbst nicht gebräuchliche Begriff des »Lamaismus« einbürgerte. Die Hierarchie der Lamas bestimmte oft nicht nur das politische Leben, ihre Klöster bildeten auch wirtschaftliche Zentren.Der Glaube an die Wiedergeburt und an die Bedeutungslosigkeit des menschlichen Daseins ist tief in jedem Tibeter verwurzelt. Diese Grundgedanken finden sich in allen tibetischen buddhistischen Schulen wieder. Im Unterschied zum Hinayana-Buddhismus mit seinen Klosterregeln, dem Moralkodex und der Vorstellung, dass nur der einzelne Mönch aus eigener Anstrengung ins Nirvana eingehen kann, das heißt Erlösung vom Kreislauf der Wiedergeburten und damit verbunden die Erlösung von allem Leiden erreicht, bietet der Mahayana-Buddhismus jedem Menschen und jedem Lebewesen die Erlösung vom Daseinskreislauf. Das Ideal dieser Richtung ist die Figur des Bodhisattva (=Erleuchtungswesen), der zwar bereits die Möglichkeit erworben hat, ein Buddha zu werden und das Nirvana zu erlangen, diesen Schritt jedoch zurückstellt, um den Lebewesen auf dem Weg zur Erleuchtung zu helfen.Mit dem Buddhismus kam Tibet schon seit dem 3. Jahrhundert n. Chr. in Kontakt. Die letzte von Indien ausstrahlende Form der Lehre, der Tantrismus, auch Diamant-Fahrzeug, Vajrayana-Buddhismus oder Mantrayana-Buddhismus genannt, konnte mit seinen Geheimlehren in Tibet dann seit dem 8. Jahrhundert mit der Verbreitung durch den indischen TantrikerPadmasambhavaFuß fassen. Dieser Lehrmeisterdem es gelang, die Vorstellungen des Bon-Glaubens zu wandeln und mit den buddhistischen Anschauungen zu verknüpfen, wurde der Begründer der ersten Schule im Vajrayana-Buddhismus: der Nyingmapa.Im Vajrayana kennt man vier als Tantra bezeichnete Lehrsysteme, die in Textsammlungen mit dazugehörigen Ritual- und Meditationspraktiken zusammengefasst sind. Diese Tantras sind geheim, da ihre Lehren im Unterschied zum Hinayana und Mahayana durch mystische Inhalte und vor allem durch eine weitgehend geheime Ritualpraxis erweitert wurden. Im Vajrayana werden nur Eingeweihten, den religiösen Lehrern und ihren Schülern, die Kenntnisse der Tantras zuteil. Die Verschmelzung des Hinayana-, Mahayana- und Vajrayana-Buddhismus stellt eine Besonderheit des tibetischen Buddhismus dar. Außerdem wurden sehr viele zentrale Elemente der Bon-Religion beibehalten. Dazu gehören beispielsweise auch die Abwehr von Dämonen sowie der Kampf gegen böse Mächte und Geister. Im Lamaismus wurden diese Wesen in die buddhistische Lehre integriert. Als Schutzgeister und Weltenwächter helfen sie nun, Hemmnisse und Übel von den Menschen fernzuhalten, um ihnen den Weg zur Erleuchtung, zum Nirvana, zu erleichtern.Dr. Susanne von der Heide
Universal-Lexikon. 2012.